Beschleunigungsstrecke

Tag 457

Es sind tatsächlich mehr als siebzehn Wochen vergangen. Das sind mehr als drei Monate. Ihr könnt Euch denken, dass in der Zeit extrem viel passiert sein muss. Und, ja, das ist es definitiv. Nicht nur sechs Wochen Sommerferien lagen dazwischen, sondern auch ein wichtiger Schritt zum Glücklichsein:

Ich habe endlich eine Wohnung gefunden 🙂

Es gibt sie also doch. Eine geeignete Wohnung für meine vier Kinder und mich. An dieser Stelle möchte ich Herrn Dr. Gregor Gysi herzlich grüßen und danken, dass er sich bei diversen Wohnungsbaugesellschaften für mich eingesetzt hat. Auch, wenn Ihr Engagement leider nicht zum gewünschten Erfolg beigetragen hat, so bin ich Ihnen, Herr Gysi, sehr verbunden und wünsche Ihnen viel Gesundheit und alles Gute. Meine jetztige Wohnung habe ich jedoch über Immobilienscout24 durch permantente Eigeninitiative gefunden. Ich hatte mich parallel ebenfalls direkt bei großen bekannten Wohnungsbaugesellschaften persönlich vor Ort registrieren lassen mit ausdrücklich schlechten Aussichten auf passende vier Wände.

Zu Hause indes spitze sich die verzwickte Lage weiterhin zu. Der Schuldruck stieg an, meine Leistungsanspruch ebenfalls und mein Ergeiz fraß mir die letzten Nerven. Nicht zu vergessen mein Beziehungschaos, die erlösende Trennung, der Blitz-Umzug, das neue Wechselmodell mit den beiden Kleinsten und der Neue. Ach ja, und das alles während der Sommerferien und drei Wochen Schließzeit der Kita. Ich erspare Euch an der Stelle die Details und fahre einfach mit der Gegenwart fort.

Haltestelle: Schulabbruch in der Zwölften mit siebzehn

Ich bin endlich in der dreizehnten Klasse. Mit diesem Schritt habe ich es geschafft, mich an der Haltestelle „Schulabbruch in der Zwölften mit siebzehn“ abzuholen und genau dort weiterzumachen. Bei der ganzen Euphorie unterschätzte ich die emotionale Wucht, die mich wie eine überraschende Tsunamie-Welle nach einem Erdbeben Stärke acht rücklings einholte. Mein Zensurenspiegel kann sich mit sieben Einsen und drei Zweien durchaus sehen lassen, doch irgendetwas stimmt nicht. Ich bin angespannt. Noch angespannter als zuvor. Ich bin verunsichert bei Zensuren, die schlechter sind als eine Eins minus. Noch verunsicherter als zuvor. Ich zweifle an mir selbst, wenn ich Klausur-Aufgaben nicht zu einhundert Prozent erledigt bekomme in der vorgegebenen Zeit. Mein Selbstzweifel sprengt alle Dämme in mir und ich sitze da und heule wie ein Schlosshund. Was ist das? Was passiert da mit mir? Psychologisch gesehen habe ich anscheinend etwas aus meiner Kindheit geweckt. Etwas, was mich tief im Inneren bewegt und ins Wanken gerät. Ist es der Schatten meines Bruders, der mir Mutterstolz vorenthielt? Ist es mein vergeblicher Kampf um Aufmerksamkeit, Bestätigung und Anerkennung, den ich bereits mit sechs Jahren verlor und all die Jahre immer wieder und wieder bis heute? Heute! Da haben wir es wieder. Was ist jetzt plötzlich anders? Ich ahne es:

Ich bin im Fokus meiner Selbst!

Ich war nie in einem positiven Fokus, höchstens im Fokus der Unachtsamkeit, des Versagens, des Vergleichs, der Schande, des Überflusses, der Sonderbarkeit und des Lästerns. Plötzlich ragt ein gigantisches Loch an der Stelle, an der vorher meine ganzen Probleme standen. Es geht mir im Grunde so gut wie noch nie. Was mach ich mit diesem Loch? Ich schaue hindurch und was sehe ich nun? Ich sehe … MICH! Ach herrje … und nun? Was muss ich jetzt tun? Was ist der nächste Schritt? Ich weiß es nicht, lasst die Mechanismen entscheiden, denke ich mir so, wohlwissend, dass sie längst bei der Arbeit sind. Meine Mechanismen schlüpfen automatisch in die Rolle derer, die vorher durch das Loch hindurch geschaut haben und an meinen Problemen mitwirkten. Die Person, die am meisten an mir rumwerkelte war meine Mutter, natürlich. Ich sehe mich also automatisch aus der Sicht meines eigenen Henkers und führe dessen Arbeit an mir fort. Was bedeutet das denn? Das bedeutet, dass mein Mechanismus mich weiter in diese Abwärtsspirale zieht und das Gefühl in mich injiziert:

Egal, was ich auch tue, wie sehr ich mich auch bemühe, es wird niemals gut genug sein. ICH werde MIR niemals gut genug sein!

Somit liegt meine Demut in mir selbst und es bin auch ICH, die mich selbst immer wieder runter zieht in das Elend meiner eigenen Kindheit erfüllt von Selbstzweifel, Sehnsucht, Enttäuschung und Schuldzuweisungen. Wie kann ich aber dieser Abwärtsspirale entkommen? Es gibt nur zwei Möglichkeiten:

Ich muss den Fokus ändern oder den Mechanismus deaktivieren.  

Das ich selbst in meinen Fokus geraten bin, ist im Grunde nicht sonderlich falsch. Im Gegenteil, es wurde auch mal endlich Zeit! Also muss ich den automatischen Down-Mechanismus deaktivieren. Nun bring mal einer Kuh bei, dass sie kein Gras mehr sondern Rinde fressen soll. Hä? Ich stehe vor einem riesen Rätsel. Ich habe Angst vor mir selbst, Angst zu versagen, indem ich mich schlecht fühle, wenn ich schlechtere Zensuren als Einsen schreibe. Im Ernst! Ich könnte im Boden versinken, mich wegsperren, mich in die Ecken stellen und mich schämen … und ich heule, als wäre irgendjemand gestorben. Ist denn jemand gestorben? …

JA! So ähnlich. Ich darf Abschied nehmen von meiner unvollendeten Jugend. Ich bin erwachsen geworden. Ich werde mein Abitur schaffen, ohne Zweifel. Ich darf Abschied nehmen von meinem Selbstzweifel, von meiner Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe, von den Enttäuschungen anderer, von meiner Mutter, von dem Schatten meines Bruders, von meiner Haltestelle in der zwölften Klasse. Ganz ehrlich? Das ist ganz schön viel. Und da wundert es mich nun gar nicht mehr, dass ich weine wie ein Schlosshündchen, denn ich habe mich selbst geschenkt bekommen. Es fällt mir noch etwas schwer damit umzugehen, ähnlich wie ein Clown, der das erste Mal in seinem Leben versucht mit Bällen zu jonglieren. So wie ihm anfangs die Bälle nur so um die Ohren fliegen so knicke ich immer wieder mit den Knien ein, als ob ich neu lernen muss zu laufen. Im übertragenen Sinne stehen meine weichen Knie für meinen Fokus und wie ich ihn am günstigsten nutze, um aus der Abwärtsspirale eine Aufwärtsspirale werden zu lassen. Und das bedeutet:

In jedem Moment steckt die Chance auf mich stolz zu sein!                                 Und ich werde jede Chance nutzen mich neu kennen zu lernen!

In diesem Sinne. Gehabt Euch wohl. Bis bald.

Eure Maria.

 

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