Tag 3
Noch einhundertsiebenunddreißig Tage. Dann beginnt mein letzter erster Schultag. Zum dritten Mal werde ich die zwölfte Klasse besuchen. Beim ersten Mal habe ich sie mit siebzehn geschmissen, weil ich mich von allen und jeden verlassen gefühlt habe. Aber dazu später in einem Sonderblock mehr. Das zweite Mal war ich zweiunddreißig Jahre alt und hatte bereits drei Kinder im Alter eins, sechs und zwölf. Die Kleine Frida hatte ich gerade in die Kita eingewöhnt und mir war klar, ich brauche Abitur und einen akademischen Abschluss, wenn ich in diesem Leben nicht mehr von Sozialhilfen abhängig sein will und meine Familie selbstversorgen möchte. Mein Mann wird bald nicht mehr arbeiten gehen und ein Deal zwischen uns lautet: Ich werde ihn finanziell ablösen und dann in seinen wohlverdienten Ruhestand schicken. Er wiederum unterstützt mich während meines Abiturs und Studiums, indem er mir Raum und Zeit zum Lernen verschafft. Leider habe ich immer mehr den Eindruck, dass es ihm nur um meinen Teil der Vereinbarung geht. Allerdings hilft es mir nicht auf die Nase gebunden zu bekommen, dass mein Lernen nervt und er Angst bekommt, weil ich eines Tages besser sein könnte als er. Auch das er mich ‚Klugscheißer‘ sowie ’scheiß Streber‘ nennt und mir das Gefühl von Naivität als auch Inkompetenz im Alltag vermittelt, ist keine wirkliche Unterstützung; eher im Gegenteil. Natürlich ist meine Aufmerksamkeit gegenüber der Familie während der Lernperioden etwas eingeschränkter als zuvor, doch es hat ja auch seinen Sinn. Ich erweitere stetig mein Wissen, um meinen Teil der Vereinbarung einzuhalten und später erfolgreich damit Geld zu verdienen. Da muss man auch mal Opfer bringen, in diesem Falle Zeit. Doch wenn ich es nur deswegen täte, wäre es mir wohl nicht Antrieb genug gewesen, den ganzen Stress hier auf mich zu nehmen. Nein, ich tue es in erster Linie für mich. Mit dem Abitur hole ich mich da ab, wo ich mit siebzehn Jahren stehen geblieben bin. Nur so kann ich den Teil meiner Kindheit abschließen und mich weiterentwickeln. Das dritte Mal steht mir nun mit vierunddreißig Jahren und vier Kindern bevor. Jetzt muss es endlich klappen. Da sich unser Kleiner einfach ungefragt, beim zweiten Versuch mein Abi nachzuholen, eingenistet hatte wie ein blinder Passagier, musste ich mich entscheiden, ob ich ihn vorzeitig abstille und schnell wieder in die Schule gehe, oder ihn mindestens zwölf Monate stille, wie es eigentlich mein Plan war, und eine Babypause einlege. Nebenwirkungen: A) Meine Klasse überholt mich und mein Abitur verzögert sich um ein weiteres Jahr. B) Dazu kommt Hartz IV ‚Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts‘ für ein halbes Jahr neu beantragen und das bedeutet C) Wohngeld und BAföG für sechs Monate abmelden, um für November dann wieder neu zu beantragen. Na prima! Das schreit ja förmlich nach übertriebener bürokratischer Beschäftigungstherapie für die Schublade ‚unterste Unterschicht‘. Fühlt sich erniedrigend an. Das mir diese Entscheidung überhaupt nicht leicht gefallen ist, kann man sich ja denken. Zusätzlich konkurrieren in mir die Vollblut-Mama und die ehrgeizige Streberin, die das Universum verstehen will, und zwar jetzt und nicht irgendwann. Ich musste also priorisieren. Und das ging dann doch ziemlich schnell und einfach. Nur waren die dazugehörigen Emotionen sehr träge im Gegensatz zur rapiden rationalen Hirnanalyse und mit der Entscheidung „Das Kind geht immer vor!“ musste die Streberin in mir zum dritten Mal die Schule unterbrechen. Und das bei einem Notendurchschnitt von eins Komma zwei. Ich fühlte mich anfangs innerlich total zerrissen. Ich empfand es als ungerecht, nicht beides haben zu können, Zeit für mein Kind und für die Schule. Doch der Tag hat schließlich nur vierundzwanzig Stunden. Da kann man nichts machen. Demzufolge galt Familie vor Bildung. Und ich würde immer wieder so entscheiden. Auch wenn es ein bisschen wehtut.
Nun denn, der Countdown läuft.
Bis bald.